- Renaissancearchitektur nördlich der Alpen
- Renaissancearchitektur nördlich der AlpenNördlich der Alpen setzte das Interesse an italienischer Renaissancearchitektur an verschiedenen, weit von einander entfernten Orten nahezu gleichzeitig ein: In Frankreich, Deutschland, Spanien, Ungarn und Polen findet man zu Beginn des 16. Jahrhunderts erste Zitate aus dem neuen architektonischen Formen- und Typenrepertoire. Diese Entlehnungen standen in ihren Kunstlandschaften meist für Jahrzehnte isoliert da. In aller Regel trugen sie einem speziellen Interesse fürstlicher Auftraggeber Rechnung, die über den entsprechenden kulturellen Horizont verfügten und für ihre Bauten häufig Spezialisten aus Italien verpflichteten.Ungarn hatte sich als erstes europäisches Land schon im 15. Jahrhundert unter König Matthias I. Corvinus dem Einfluss der Renaissance geöffnet. Im Jahr 1517 engagierte Sigismund I., der ehrgeizige König des Nachbarlands Polen, den Florentiner Bildhauerarchitekten Bartolomeo Berrecci, um durch ihn an den Krakauer Dom die Grabkapelle seines Hauses anbauen zu lassen - ein rein italienisches Kunstwerk, das ohne erkennbare Vermittlungsstufen vom Arno an die Weichsel verpflanzt scheint. Dass der Bau die lokale und regionale Überlieferung so vollständig ignoriert, ist ein typisches, im Prinzip bekanntes Motiv monarchischer Auftraggeberschaft - die Unvergleichlichkeit des Stifters ließ sich auf diese Weise eindrucksvoll inszenieren, sein Herrschaftsanspruch augenfällig untermauern.Kein europäischer Herrscher des 16. Jahrhunderts hat sich so energisch und langfristig für die Aneignung italienischer Kultur eingesetzt wie König Franz I. von Frankreich. Schon sein Vorgänger Karl VIII. hatte italienische Architekten und Künstler von seinen Feldzügen nach Frankreich mitgebracht; es gab also bereits eine Tradition, an die Franz I. anknüpfen konnte. Neu war indes sein Anspruch, nur die besten Künstler an den französischen Hof zu ziehen und sich damit auf eine Stufe mit den prominentesten Auftraggebern Italiens zu stellen. 1516 nahm Leonardo da Vinci die Einladung des Königs nach Frankreich an, ab 1530 folgte mit Rosso Fiorentino, Francesco Primaticcio und Benvenuto Cellini eine Künstlergeneration, die bereits mit den frühmanieristischen Tendenzen Italiens vertraut war.Am direkten Import italienischer Architektur zeigte Franz I. geringeres Interesse. Seine zahlreichen Schlossbauten, die er zunächst an der Loire, später vor allem in der Umgebung von Paris errichten ließ, sind durch die Verschmelzung italienischer Formen mit einheimischer Bautradition gekennzeichnet und zeigen von Anfang an den Ehrgeiz, der französischen Renaissancearchitektur eine eigenständige Richtung zu geben. Der erste bedeutende Architekt, den Franz I. aus Italien berief, war Sebastiano Serlio, der 1541 aus Venedig an den französischen Königshof in Fontainebleau kam. Während Serlio für die Hofaristokratie mehrere Bauten errichtete, war er für den König vornehmlich als Berater tätig. In Frankreich entstand der größte Teil seines Architekturtraktats, der den Stil der römischen Hochrenaissance in ganz Europa berühmt machte, aber auch Vorlagen für manieristische Bauformen lieferte und als erste Architekturpublikation überhaupt auf die besonderen Bedürfnisse einging, die sich daraus ergaben, dass ein nichtitalienisches Publikum Formen der Renaissance übernahm.Während sich die französische Renaissancearchitektur von Franz I. bis in die Zeit Heinrichs IV. an den Vorgaben des königlichen Hofs orientierte und dadurch eine konsequente Entwicklung durchlief, eignete man sich im territorial und politisch zersplitterten Gebiet des Heiligen Römischen Reichs die italienischen Vorbilder in zahlreichen Einzelschritten an. Zum Pionier des Renaissancestils in Deutschland wurde das Handelshaus der Fugger, das enge Beziehungen zu Italien unterhielt und durch italienisch geprägte Wohn- und Sakralbauten seinen besonderen Rang unter den Augsburger Patrizierfamilien demonstrierte.Nur wenige Jahre nach dem Baubeginn von Schloss Fontainebleau ließ Herzog Ludwig X. von Bayern, der alle politischen Vollmachten an den in München regierenden Bruder abgetreten hatte und sich ohne praktische Herrscherpflichten seinen kulturellen Interessen widmete, die Stadtresidenz in Landshut durch einen völlig italienisch geprägten Anbau erweitern. Auch im deutschen Reich war seit 1530 das fürstliche Schloss diejenige Bauaufgabe, die sich am bereitwilligsten dem Einfluss der Renaissance öffnete. In Heidelberg und Torgau, Dresden und Prag entstanden teils durch Neubauten, teils durch Umgestaltungen einzelner Baupartien moderne Residenzen, die gesteigerten Komfort- und Repräsentationsansprüchen gerecht werden konnten, aber auch neue militärische Erfordernisse berücksichtigten. So ließ Herzog Wilhelm V. von Jülich, Kleve und Berg, ein ehrgeiziger Territorialfürst mit Großmachtambitionen, im rheinischen Jülich durch den italienischen, zuvor in Holland tätigen Baumeister Alessandro Pasqualini eine Residenz errichten, die eine neuartige Verbindung von Zitadelle und Wohnbau darstellte.Die Schlossbauten in Jülich und Heidelberg sind frühe Beispiele für den niederländischen Einfluss in der deutschen Architektur. Seit 1560 folgte auch die bürgerliche Baukunst in den nord- und westdeutschen Regionen weitgehend dem Vorbild des Nachbarlandes, wobei die ganze Bandbreite der flämischen und holländischen Stilentwicklung Berücksichtigung fand. So ist die Vorhalle des Rathauses in Köln, von 1569 bis 1573 von dem niederrheinischen Architekten Wilhelm Vernucken erbaut, merklich von der Klassizität der Antwerpener Architektur inspiriert; möglicherweise hatte Cornelis Floris Entwurfszeichnungen geliefert. Vielfach von holländischen Vorbildern beeinflusst zeigen sich die Bauten der »Weserrenaissance«, die von etwa 1550 bis 1630 das Baugeschehen im Gebiet zwischen Bremen und Kassel bestimmte. Nicht zuletzt durch Traktate und weit verbreitete Stichvorlagen wurde die Baukunst der niederländischen Städte seit der Mitte des 16. Jahrhunderts zum erfolgreichen Exportprodukt. Besonders die reich illustrierten Publikationen von Hans Vredeman de Vries trugen zur Verbreitung niederländischer Bauformen bis in den Ostseeraum bei.Die konfessionelle Spaltung des 16. Jahrhunderts wirkte sich auf die Nachfrage nach italienischer Architektur zunächst nicht merklich aus: Sowohl katholische als auch protestantische Fürsten ließen Schlösser und Kirchen im Renaissancestil errichten, reiche Städte beider Bekenntnisse nutzten das italienische Formenrepertoire für den Neubau ihrer Rathäuser. Dennoch übte die Reformdebatte über die religiöse Angemessenheit der Sakralarchitektur, wie sie in Italien seit dem Konzil von Trient ausgetragen wurde, nachhaltigen Einfluss auf den Kirchenbau nördlich der Alpen aus. Zunehmend folgten katholische Kirchen neuen, von der Gegenreformation sanktionierten Grundrisstypen. In diesem Prozess kam dem 1540 von Papst Paul III. bestätigten Jesuitenorden eine Schlüsselrolle zu. Der Neubau der Münchener Jesuitenkirche orientierte sich 1582 am Vorbild von Il Gesù in Rom, zur gleichen Zeit wählte man für die »Wälsche Kapelle« des Prager Klementinums einen ovalen Grundriss und griff damit gleichfalls auf ein römisches Sakralbauschema des 16. Jahrhunderts zurück. Damit stellte bereits die Renaissance die Prototypen jener spezifisch katholischen Sakralbaukunst zur Verfügung, die nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges im süddeutschen und mitteleuropäischen Barock zur Entfaltung kommen sollte.Prof. Dr. Andreas Tönnesmann
Universal-Lexikon. 2012.